Marcus Ebener

Gedenkort Breitscheidplatz

Für die Opfer des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016

Eine räumliche und symbolische Verankerung für die Erinnerung an den 19. Dezember 2016 teilt das Leben vieler Menschen in ein Davor und ein Danach. Zwölf Menschen haben an diesem Tag ihr Leben verloren. Mehr als 60 Menschen wurden teils schwer verletzt. Für ihre Angehörigen hat dieser Tag traumatische Bedeutung. Auch im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft hat sich dieser Tag eingebrannt. Der Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt vor der Gedächtniskirche fordert die Offenheit und Toleranz der Bevölkerung heraus. Die Wunde, die sich an diesem Tag öffnete, heilt nur langsam und bedurfte an einem so lebhaften Ort wie dem Breitscheidplatz einer dauerhaften Erinnerung – erinnern ohne zu überformen.

Der unvermittelte „Riss“, der sich durch dieses Ereignis im Alltag vieler Menschen aufgetan hat, ist das Leitmotiv für die Gestaltung des Gedenkortes. Ein Riss durch den Breitscheidplatz und die Namen der Opfer verankern die Wunde des 19. Dezember 2016 dauerhaft und sichtbar im Stadtbild. Ein Gefüge zerbricht und muss nachvollziehbar wieder zu einem Ganzen vereint werden. Kintsugi, eine japanische Technik der Edo-Zeit, der längsten Friedenszeit in der japanischen Geschichte, stand Pate für den konzeptionellen Umgang mit dem Ort. Kintsugi fügt als eigenes ästhetisches Prinzip Zerbrochenes wieder zusammen. Die Bruchstellen werden respektvoll in einer würdigen Materialität geschlossen und hervorgehoben. Das Gedenken ist unmittelbar mit dem Ort verbunden. Ausgangspunkt ist die Verwendung der vorgefundenen physischen Bestandteile, die den Ort bilden.

Statt eine Tafel oder Stele hinzuzufügen, geht es um die Transformation des Ortes durch reduzierte Modifikationen der Oberflächen. Es entsteht eine andere Bedeutungssphäre. Die Narbe, welche die Katastrophe hinterlassen hat, wird durch den nachvollziehbaren Vorgang des Schließens sichtbar und erinnert an die Opfer, ohne selbst zum Monument oder Dokument zu werden. Die Geschichte des Ortes mit der Turmruine, der neuen Gedächtniskirche – ein Meisterwerk von Egon Eiermann – und der sie umgebenden „Leere“ war eine Herausforderung und galt es bei dem Entwurf zu respektieren. Die Intervention überwindet die Diskontinuität zwischen dem Gewesenen und dem Jetzt. Sie gibt der Erinnerung eine räumliche und symbolische Verankerung und schreibt die Geschichte und die Friedensbotschaft des Ortes fort.

Diese ästhetische Interpretation der Katastrophe und ihrer Erinnerung verändert den Ort kaum. Sie beeinträchtigt die „Gebrauchsfähigkeit“ des Ortes nicht und ist dennoch stets präsent und sichtbar. Ein Riss verläuft von der Budapester Straße, über den Breitscheidplatz, die Stufen der Treppenanlage hoch und endet auf dem Eiermann-Pflaster vor der neuen Kirche. Der Riss verdeutlicht die Vergeblichkeit, die Tat begreifen zu wollen. Die Namen der Opfer sind beidseitig des Risses in die Setzstufen eingegossen. Sie sind für immer in diesen Ort eingeschrieben. Die Anordnung der Namen ist der Ordnung des Alphabets überlassen. Oberhalb der Namen ist in die oberste Setzstufe die Inschrift des Gedenkorts eingefügt.

Nicht eine „Kranzabwurfstelle“ zu offiziellen Anlässen war das Ziel, sondern ein Ort der durch das individuelle Ablegen von Blumen, Kerzen, Steinen bei den Namen das Gedenken spüren lässt. Der Gedenkort bleibt dadurch immer als solcher erkennbar, ganz gleich, welche anderen Veranstaltungen hier stattfinden.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus einem Beitrag des Architekten HG Merz für das KWG Magazin der Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum 125. Jubiläum der Kirche (2020). HG Merz führt zusammen mit seiner Tochter Sophie Merz das Architekturbüro merz merz in Berlin. 2017 hat merz merz den Gestalterwettbewerb für den Gedenkort gewonnen und ihn zum Jahrestag des Attentats umgesetzt.