Max Cramer
Turmruine aus den Bäumen herausragend, rechts ein Ausschnitt des eingerüsteten Glockenturms

Gedächtniskirche als Ort des Erinnerns

Vielfältige Schichten der Geschichte

Ohne Erinnern keine Zukunft

Eine Kultur des Erinnerns ist zentral für uns heute, für unser Miteinander und für unsere Gesellschaft. Jenseits von nationaler, glorifizierender Vergangenheitspolitik ist heutzutage ein selbstkritisches Erinnern im Dialog gefordert. Diese erinnerungspolitische Wende, die sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts vollzogen hat, hat die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann maßgeblich mitgeprägt. Der Appell, zu vergessen, der nach Kriegsende im 20. Jahrhundert für den Umgang mit der eigenen Geschichte bestimmend war, wich dem Anerkennen, dass ohne Erinnern keine Zukunft möglich ist. Eine Integration der Vergangenheit ist notwendig, damit Zukunft gelebt werden kann. Erinnerung kann Geschichte nicht revidieren, sondern aufbereiten!

Der Beitrag der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum erinnerungskulturellen Auftrag der Gesellschaft

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist nicht nur ein religiöser Ort. Im Zusammenspiel aus Altem Turm und Neuer Kirche ist sie ein internationales Wahrzeichen, das zum Erinnern aufruft. Der Alte Turm steht als Mahnmal inmitten der Bauten der Nachkriegsmoderne für menschengemachte Zerstörung und die Kraft der Versöhnung, für Frieden und Weitergehen.

Der Alte Turm zeugt als Ruine bleibend von dem Verbrechen an der Menschheit unter der Herrschaft der Nationalsozialisten.

Und das gesamte Gebäude-Ensemble auf dem Breitscheidplatz markiert den Weg in die Zukunft: Das die Zeichen der Zerstörung tragende Alte wird ins Neue integriert. Die Anfang der 60er Jahre eingeweihten Gebäude der Neuen Kirche nehmen den Alten Turm in ihre Mitte. Architektonisch manifestiert sich hier ein Moment der Erinnerung. Denn „es gab keine Stunde Null“ (A. Assmann). Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche symbolisiert einmalig, dass es mit dem Untergang des Dritten Reiches im Nachkriegsdeutschland kein ‚Reset‘ braucht, um in die Zukunft gehen zu können. Narben freilegen und sie sinnbildlich in die Mitte nehmen, ist ein Akt der Erinnerung.

Zugleich führt der erinnerungskulturelle Auftrag der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche weiter. An diesem Ort – einst hieß er Gutenbergplatz (bis 1892), dann nach der Kaiserin Auguste-Viktoria-Platz und wurde 1947 zum Gedenken an den durch die Nationalsozialisten verfolgten Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid umbenannt – zeugt der Alte Turm nicht nur von Krieg und menschengemachter Zerstörung, sondern auch von der vorherliegenden Episode der Geschichte: dem Kaiserreich und der Herrschaft des Hauses der Hohenzollern.

Die Zeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehört zur Identität der deutschen Geschichte wie die darauffolgende menschgemachte Katastrophe, das moralische Versagen eines ganzen Landes, dessen Singularität nicht infrage gestellt werden kann. Es existierten Zeugnisse der Kultur, des kollektiven Gedächtnisses, der Identität(en) – diese wurde 1943 beim schweren Luftangriff auf die Innenstadt Berlins von Bomben getroffen und in ihren monumentalen Zeugnissen zerstört.

Das Ensemble der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, so wie es im 21. Jahrhundert auf dem Podium auf dem Breitscheidplatz steht, zeugt in einzigartiger Weise von diesen vielfältigen Schichten der Geschichte, die sich übereinander lagern. Schichten, die (wenn auch indirekt) zur kollektiven Identitätswerdung der Menschen heute gehören.

Das Ensemble, in dem diese Schichten mit einer integrativen Kraft zusammengeführt werden, bildet im Zusammenspiel aller Schichten einen aufregenden Geschichtsort, der die Vielschichtigkeit der deutschen Identität erinnert und erlebbar macht.

Der Text ist ein Auszug aus einem Essay von Dr. Sarah-Magdalena Kingreen.