saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau
Aufbau des Stahlskeletts des Kirchenoktogons, 1960

Ensemble aus Alt und Neu

Es hätte anders kommen können: Zur umkämpften Zukunft der Kirchenruine in der Nachkriegszeit und zur Entstehung des ikonischen Gebäudeensembles.

Teilzerstörung im Zweiten Weltkrieg

Archiv der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Ansicht von Süden, 1945

Im Zuge des Krieges gegen Nazi-Deutschland wurde Berlin am Abend des 22. November 1943 so stark bombardiert wie nie zuvor. Die Bomben der britischen Luftwaffe trafen dabei auch die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die stark beschädigt und unbenutzbar wurde. Bis zum Kriegsende kamen noch weitere Schäden hinzu. Das Ausmaß der Zerstörung war enorm. Der ausgebrannte Kirchenraum lag in Trümmern. Das Dach und die mit Mosaiken geschmückten Gewölbe, die ihn einst überspannten, waren eingestürzt. Die ruinösen Außenmauern standen allerdings noch in unterschiedlicher Höhe.

Im östlichen Bereich der einstigen Prachtkirche war der Chor mit den beiden Seitentürmen trotz starker Beschädigung in Grundzügen erhalten. Am anderen Ende erhob sich weiterhin der ursprünglich 113 m hohe Hauptturm, dessen Spitze in erheblichem Maße weggebrochen war. Durch die zerbrochene Silhouette erhielt der nun 71 m hohe Ruinenturm den Spitznamen "Hohler Zahn". Die üppigen Mosaike und Skulpturen der Eingangshalle im Erdgeschoss der Turmruine waren trotz zahlreichen Schäden relativ gut erhalten.

KWG-Archiv
Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Ansicht von der Tauentzienstraße aus, 1946

Umkämpfte Zukunft der Kriegsruine

Archiv der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Gottesdienst in der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Pfingsten 1953

Der Umgang mit der Kirchenruine und die zukünftige Gestalt der Gedächtniskirche waren umkämpft in der Nachkriegszeit. Zwischen 1947, als diesbezügliche Debatten losgingen, bis zur Fertigstellung des vom Architekten Egon Eiermann entworfenen Gebäudeensembles 1963 lag ein langwieriger und ergebnisoffener Aushandlungsprozess. Es waren mehrere, zum Teil grundverschiedene Ideen im Umlauf: von einem rekonstruktiven Wiederaufbau der ursprünglichen Kirche, über eine Kombination aus Alt und Neu, bis hin zu einem Neubau in modernen Bauformen. Dabei ging es nicht nur um die zukünftige Gestalt der Kirche, sondern auch um die städtebaulich-architektonische Entwicklung des Platzes, auf dem die Kirchenruine stand, der 1947 in den Breitscheidplatz umbenannt wurde. Durch seine repräsentative Lage im West-Berliner Zentrum kam diesem Areal im Kontext des Kalten Krieges und der Teilung Berlins eine besondere stadtgestalterische und symbolpolitische Bedeutung zu.

Zur Debatte stand sogar, ob die Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz überhaupt bleiben sollte. Die städtischen Behörden befürworteten eine Zeit lang einen ganz neuen Standort für die Kirche, um den Breitscheidplatz im Sinne der zeitgenössischen städtebaulichen Leitbilder, wie der Vorstellung einer autogerechten Stadt, grundlegend umzugestalten. Hingegen hielt die kirchliche Seite - das Kuratorium der Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Erbbauberechtigte des Grundstücks - am bisherigen Standort fest, um die Gemeindetradition und eine kirchliche Prägung des West-Berliner Stadtzentrums aufrechtzuerhalten. Erst 1951-52 wurde die Kirchenruine enttrümmert. Danach fanden in der Ruine unter freiem Himmel vereinzelte Veranstaltungen statt. Die Bilder von diesem erstaunlichen Provisorium der Nachkriegszeit zeigen einen gut besuchten Pfingstgottesdienst oder ein Konzert, bei dem die Besucher:innen witterungsbedingt Regenschirme tragen.

Archiv der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Konzert in der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, 1952
Archiv der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Werner March, unrealisiertes Modell für den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, 1954

In den folgenden Jahren kam die Suche nach einer langfristigen Lösung immer mehr ins Rollen. 1954 erarbeitete Werner March, der Architekt des Berliner Olympiastadions und Professor für Städtebau an der TU Berlin, im Auftrag des Kuratoriums der Stiftung KWG einen Entwurf für den Neubau der Kirche. Der alte Turm- und Chorbereich bleiben erhalten und werden teilweise in vereinfachter Weise historisierend wiederhergestellt. Dazwischen steht ein neues Kirchenschiff aus Beton, das im Inneren parabelförmig ist und nach außen gleichförmige Fenster aufweist. Zugleich greift Marchs Schiff die Kontur des kaiserzeitlichen Schiffes auf und ist in Anpassung an die historischen Reste mit Trümmersteinen verblendet. Dadurch wird eine möglichst nahtlose Integration der Gegenwart in einen Rahmen angestrebt, der von der z.T. fabrizierten Vergangenheit geprägt ist.

Für Marchs Vorhaben wurden 1954-55 die übriggebliebenen Teile der Ruine zwischen dem Turm- und dem Chorbereich abgerissen. Allerdings konnte sich der Entwurf nicht durchsetzen. Der Senat verweigerte die Baugenehmigung. Der zentrale Kritikpunkt: zu vergangenheitsgewandt und konservativ. Stattdessen sollte auf dem prominentesten Platz West-Berlins, so das Kernargument, ein  Zeichen von Modernität und Zukunftsorientierung gesetzt werden. Tatsächlich diente das Baugeschehen im geteilten Berlin in besonders anschaulicher Weise als symbolpolitisches Konfliktfeld zwischen Ost und West. Der Einsatz für Modernität in West-Berlin, dem "Schaufenster des Westens", stellte eine deutliche Abgrenzung zur pompösen historisierenden Architektur im Ost-Berlin der 1950er Jahre dar. So entstand im Areal des Breitscheidplatzes, rund um die Kirchenruine, ab den 1950er Jahren ein ausdrücklich von der Nachkriegsmoderne geprägter Stadtraum.

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Turm- und Chorruine von Nordwesten, 1954

Architekturwettbewerb 1956-57: es hätte wesentlich anders kommen können

Hans Schlitz / saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau
Egon Eiermann (Mitte) mit Mitarbeitern
in seinem Architekturbüro, 1957

Im März 1956 lobten das Kuratorium der Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und der Berliner Senat gemeinsam einen Wettbewerb für den Neubau der Kirche aus. Das beabsichtigte Baugebiet war der Bereich der Turmruine und westlich davon. Östlicherseits war eine große Verkehrskreuzung geplant, was den Abriss der Chorruine 1956-57 zur Folge hatte.

Die Art und Weise, wie mit der Turmruine, dem nun einzigen Relikt der alten Kirche, zu verfahren ist, wurde im Wettbewerb offen gelassen. Festgelegt war lediglich, dass ein Kirchenturm weiterhin auf dem Standort der Turmruine stehen soll. Verbindliche Vorgaben zur Form des zukünftigen Turms fehlten grundsätzlich. Ein breites Spektrum an Ansätzen war möglich: vom Erhalt des alten Turms über seine Umgestaltung bis hin zu seinem Ersatz durch einen gänzlich neuen Baukörper.

Das Ergebnis: Sechs der neun teilnehmenden Architekten hatten vor, die Turmruine in dieser oder jener Form in ein neues Kirchenensemble einzubeziehen, während die restlichen drei deren Abriss planten. Zu diesen gehörte Egon Eiermann (1904-1970), ein prominenter Vertreter der Nachkriegsmoderne, der im Karlsruhe der Nachkriegszeit ein angesehenes Architekturbüro betrieb und an der dortigen Technischen Hochschule Architektur unterrichtete. Im März 1957 wurde Eiermanns Wettbewerbsbeitrag zur Ausführung bestimmt.

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Egon Eiermann, unrealisiertes Modell für den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, 1957

Wäre dieser Entwurf umgesetzt worden, wäre das Ensemble der Gedächtniskirche heute ein wesentlich anderer Ort: ohne die Turmruine, nur aus schlichten Neubauten bestehend. Eine rechteckige Kirche stünde in der Mitte, westlich davon eine rechteckige Kapelle, im Südosten ein rechteckiger Glockenturm. Ein direkter Bezugspunkt für die Kirche und den Glockenturm, einschließlich deren Fassaden mit rasterförmigen Glasfenstern, war Eiermanns erster Kirchenbau, die Mätthauskirche in der baden-württembergischen Stadt Pforzheim aus den frühen 1950er Jahren. Ähnlich wie in Pforzheim sollte das Ensemble eine diskrete Erinnerung an die Kriegszerstörung enthalten und zwar durch den sichtbaren Einsatz vom Abbruchmaterial der alten Kirche im Neubau.

Der Siegerentwurf stieß allerdings unverzüglich auf deutliche Ablehnung in der Berliner Öffentlichkeit. Die Kritik richtete sich vor allem gegen den geplanten Abriss der Turmruine. Die Ruine, so der Tenor, müsse bleiben, da sie einen besonderen Stellenwert im kollektiven Bewusstsein und Gedächtnis der Berliner Bevölkerung habe: als Erinnerung an das alte Berlin, als Wahrzeichen des nachkriegszeitlichen West-Berlins und als Kriegsmahmal.

Der Wille der Berliner:innen zum Wachhalten der Erinnerung hing dabei mit den gedenkpolitischen Grundhaltungen jener Zeit zusammen und war geprägt von dem Empfinden der eigenen Opferrolle. So sollte die Ruine vor allem vom eigenen Leid im Krieg zeugen, ein Ausdruck der Gleichmachung mit den Opfern des NS-Regimes, die aus der Perspektive der heutigen Erinnerungskultur befremdlich wirkt. 

Der medienwirksame Einsatz für den Erhalt der Turmruine erntete schnellen Erfolg. Weniger als eine Woche nach der Bekanntmachung des Wettbewerbsergebnisses forderte das Kuratorium der Stiftung KWG Eiermann dazu auf, seinen Entwurf zu überarbeiten und die Turmruine einzubeziehen. Eiermann stellte sich der neuen Aufgabe und der Konzeptualisierungs- und Umsetzungsprozess entwickelte sich allmählich hin zum ikonischen Gebäudeensemble, das wir kennen.

Ensemble aus Alt und Neu nimmt Gestalt an

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Gebäudeensemble der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Ansicht von Südosten, 1963.
Von links nach rechts: Foyer, Kirche, Turmruine, Glockenturm, Kapelle

Das von Eiermann entworfene Ensemble bilden die Turmruine und vier Neubauten. Die Ruine ist das zentrale und mit ihren 71 Metern auch das höchste Element. Im deutlichen Kontrast zu ihr stehen die Neubauten, die durch ihre schlichte, geometrische Gestaltung und die Materialien Beton und Stahl geprägt sind. Westlich des Ruinenturms erhebt sich die achteckige Kirche; dahinter, weiter westlich, das rechteckige sog. Foyergebäude. Im Südosten steht der sechseckige Glockenturm, im Nordosten die rechteckige Kapelle.

Das Ensemble steht größtenteils auf einem rechteckigen Podium, das sich um mehrere Stufen über den Breitscheidplatz erhebt. Das Podium verbindet die Baukörper miteinader, hebt das Ensemble hervor und stellt zugleich durch seine Durchlässigkeit eine Verbindung zu allen Seiten des Stadtraums her.

Das Ensemble entstand zwischen 1959 und 1963. Die Grundsteinlegung erfolgte am 09. Mai 1959, die Einweihung der Kirche und des Glockenturms am 17. Dezember 1961. Die Kapelle und das Foyer wurden Ende 1963 fertiggestellt.

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Gebäudeensemble der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Ansicht von Nordwesten, 1963
Egon Eiermann, Schnitt/Ansicht und Grundriss des ausgeführten Gebäudeensembles der Gedächtniskirche. Von links nach rechts: Foyer im Westen, Kirche, Turmruine, Glockenturm im Südosten, Kapelle im Nordosten

In architektonischer Hinsicht ist das Gebäudeensemble der Gedächtniskirche viel mehr als die Summe seiner Einzelteile. Es ist das Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses des In-Beziehung-Setzens, bei dem das Verhältniss von Alt und Neu den gestalterischen Knackpunkt bildete.

Die Einbeziehung der Turmruine wirkte sich auf die Gestalt und die Anordnung der Neubauten aus. Dass beispielsweise die Kirche achteckig ist (und nicht rechteckig wie bei Eiermanns verworfenem Siegerentwurf von 1957), hängt direkt, wenn auch diskret, damit zusammen, dass die Turmruine im oberen Teil auch achteckig ist. Auch die Höhe der Kirche ist auf die Turmruine bezogen; genauer, sie reicht bis zum Hauptgesims der neoromanischen Fassade.

Der Dialog mit der Vergangenheit ging dabei noch weiter zurück. Als Eiermann die Gesamtanordnung des Ensembles konzipierte, studierte er mittelalterliche Kirchenkomplexe in Italien (z.B. Florenz, Parma, S. Zeno in Verona), bei denen freistehende Baukörper (Kirche, Glockenturm, Taufkirche), darunter achteckige, ein spannungsreiches Miteinander bilden. In Berlin ging es Eiermann darum, im Gegensatz zu einer beziehungslosen Gegenüberstellung, ein dialogisches Verhältnis von Alt und Neu zu formen: "ein Spiel des Neuen um den alten Turm herum". Die Neubauten der Gedächtniskirche sind so angeordnet, dass sie aus allen Blickachsen immer im Verhältnis zum Ruinenturm stehen. Das Alte und das Neue präsentieren sich in ihrer Verwobenheit in immer wechselnden Konfigurationen. In ihrem kontrastreichen Miteinander bleiben sie stets eine unzertrennliche Einheit.

Die Bedeutung des Ensembles geht zugleich weit über die gestalterische Leistung, die ihm zugrunde liegt, hinaus. Als Ort des Glaubens und des Erinnerns, des Friedens und der Versöhnung, als Mahnmal gegen den Krieg lebt das Ensemble der Gedächtniskirche ein vielfältiges Leben in der Gegenwart. Seine Einzelteile birgen vielschichtige Raumwelten, die wir Ihnen näher bringen möchten: Kirche, Glockenturm, Kapelle sowie die zukünftigen Bauprojekte.